2016-01-13 Kunming

Am Morgen ist die Sonne noch nicht aufgegangen, als ich zum Kiosk laufe, es kündigt sich aber schon ein strahlender Tag mit milden Temperaturen an.
Der Ladenbesitzer sitzt im Bürostuhl bei bläulichem Neonlicht hinter dem Tresen, neben ihm ein vierjähriger Junge. Sie schauen beide gebannt auf den recht weit oben hängenden Fernseher – die Japaner werden, mit gutem Recht angesichts ihrer vorherigen Grausamkeiten, niedergeballert. Schon gestern, spät abends, haben die beiden hier tapfer Stellung gehalten und etwas anderes geschaut. Als ich zwei Getränke auf dem Tresen abstelle, beschaut der Ladenbesitzer die Waren, indem sich ein Auge fast unmerklich vom Fernseher löst, dann nennt er die Summe, die sich ergibt – dieses Mal ist es 7. Er nimmt 7 entgegen, dabei zielen beide Augen schon wieder knapp an mir vorbei, auf den hinter mir hängenden Fernseher. Ich bleibe noch ein wenig länger und schaue den Mann genauer an – seine Haare sind streng zurück gekämmt, mit Öl oder Ähnlichem, die Kammfurchen sind noch deutlich erkennbar, ein blass-fahles Gesicht, er hat etwas Amphibienartiges an sich, eine weiß-gelbliche Flüssigkeit tropft aus seinem Ohr auf den Hemdkragen, ohne dass er davon Notiz nimmt.
Ich überlege, ob ich ihn im Gesicht anfassen soll, werde dann aber von einem Schmerz in der Ferse abgelenkt und sehe gleichzeitig eine junge Frau in Security-Uniform draußen vorbeilaufen – ich stelle ihr nach.
Sie möchte mit dem Bus stadtauswärts fahren. Während wir auf unseren Bus warten, kippt eine Frau auf der anderen Straßenseite einen Eimer Abfall in den längst überfüllten Müllcontainer, dabei fällt einiges an Gedärm platschend zurück auf den Asphalt, dann kommt der Bus. Wir verbringen einen schönen Tag auf dem Land.

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2016-01-15 Kunming

Mittags esse ich ölige Nudeln, mit Zwiebeln und schmalen Streifen Rindfleisch beim Chinesen der halal kocht, er ist Muslim. An der Wand ein Plakat, das zwei Mädchen betend mit Kopftuch zeigt, den Blick leicht aufwärts ins Nichts gerichtet, in der Mitte eine güldene Moschée.

Abends gehe ich in die Marktgasse, wieder vorbei an der Apotheke, die mit kostenlosem Wi-fi wirbt und da vorbei, wo vorgestern die Mutter mit einem Holzstock ihren Dreijährigen ins Gesicht schlug und an den Fischen, die letztes Mal auch schon tot im Bottich schwammen.

Notiz:
das Erleben einer Intensität.
Die Ereignisse bilden in einer dichten Aneinanderreihung eine Ebene aus Höhepunkten ohne erkennbare Gipfel – eine grenzenlose, homogene Ebene aus Erhebungen.

Ich bin zu träge, Neues auszuprobieren und schlage mich zum selben Grillstand durch. Heute bin ich angestrengt, von den Chinesen mit ihren ausgedachten Manieren, ihrer Tradition, an die sie sich klammern und den Chinesen auf ihren beknackten, geräuschlosen Elektrorollern und ihrem Gehupe – selbst, wenn sie bei Rot fahren, hupen sie die Passanten aus dem Weg. Die Chinesen, die dann bereitwillig und ohne eine Miene zu ziehen, den Weg freimachen, verderben mir die Laune. Die meisten Chinesen sind einfach nicht in der Lage kritisch zu denken, auch nur irgendetwas Gegebenes in Frage zu stellen, geschweige denn in Aktion zu treten - wie die geräuschlosen Elektroroller rollen sie durchs Leben.
Was groß ist und protzig aussieht, das wollen sie, und deswegen laufen jetzt alle mit Nike und Adidas Klamotten rum, die, die Geld haben, in den echten, die, die keins haben, eben in den gefälschten. Ansonsten ist alles von Apple oder hat zumindest einen angebissenen Apfel als Logo: Garagentore, Socken und Armaturen im Badezimmer. Der Stil ist überall gleich, hier und 2500 km östlich derselbe Einheitsbrei. Es gibt auch überall nur das Gleiche, wie soll man da eigenen Geschmack entwickeln. Und dergestalt verhält es sich auch mit ihren Meinungen, Einstellungen, ihren Zielen, die leidenschaftslos gesteckt sind und der einzigen Wahrheit folgen, an die geglaubt wird - dem Geld.

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2016-01-16 Kunming

(Habe meinen Eintrag vom 2016-01-15 überdacht: Es ist vielleicht verkehrt, unseren zwanghaften Individualismus, bzw. das Besondere dem Allgemeinen so pauschal vorzuziehen und überhaupt aus einer westlichen Sicht heraus zu werten usw.; Andererseits gibt es gute Gründe zu glauben, dass ein Großteil der Chinesen unglücklich oder depressiv sind, noch viel mehr als im Westen, daher vielleicht das Phlegmatische. Und letztens las ich das: ‚Several of the government officials who committed suicide became depressed when they were investigated for corruption.’)

Am Nachmittag besteige ich einen riesigen Berg, der hinter der Stadt thront. Es sind fast nur buddhistische Mönche auf dem Weg, die allerdings sehr langsam laufen, weil sie sich durch ihre Smart-Phones ablenken lassen und dann stehen bleiben; bei einigen Raststellen sitzen sie und überweisen sich gegenseitig Geldbeträge mittels We-Chat.

Beim Abstieg sitzt an einem besonders eindrucksvollen Aussichtspunkt ein trübsinniger Chinese, der sich mir sofort anvertraut. Gleich nach dem Vorstellen fragt er mich, wo die Wahrheit liegt, woraufhin ich ihm frei heraus erkläre, dass es offensichtlich keine Umrisslinien gibt, dass alle Übergänge fließend sind und die Ereignisse ganz ohne tiefen Sinn zurecht kommen; nur wir stehen vor ihnen und probieren sie in Ordnung zu bringen, um uns am Ende des Tages in einem Orientierungsrahmen zu festigen. Ich überlege, ihm noch meine Theorie vom ‚kontemplativen Nihilismus’ zu erläutern, lasse es dann aber. Ich hoffte ihm etwas existentielle Last genommen zu haben, aber sein verstohlener Blick in den Abgrund verrät mir, dass ich mein Ziel verfehlt habe. Um ihn doch noch aufzurichten, zeige ich ihm ein Gemälde von Baltus (‚Thérèse revant’) was ich auf längeren Reisen immer auf meinem Handy habe, doch sein Blick bleibt bedeckt. Ich gehe also zügig weiter talwärts und bin schon am frühen Abend wieder zurück im Appartment.
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